10 Jahre Fakultät Gestaltung:

"Ein Herz für Tiere"

eine kurze Einführung zur Arbeit von Mareike Maage und Johannes Mayr in der Jahresausstellung der Bauhaus-Universität Weimar (6.7.2003)

Peter T. Lenhart, Institut für Repräsentationstheorie und Kulturanalyse (München)

Wer in den Siebziger Jahren in oder um München herum eine Grundschule besucht hat, dem dürfte auch das Schulausflugsziel "Streichelzoo" bekannt sein. Da gab es einmal zum Beispiel den im Wildpark Poing, wo man kleine Ziegen, Hasen, Schafe etc. aus der Nähe sehen und sogar füttern und anfassen durfte. Das Tierfutter gab's aus Automaten und war vermutlich ein recht einträgliches Geschäft, wobei ich mich damals noch nicht gefragt habe, wie oft sie denn die Tiere auswechseln müssen, wenn die täglich von Hundertschaften von Grundschülern intensivgemästet wurden. Im Rest vom Park gab es dann auch noch wilde Tiere zu sehen, Wildsauen und Rehe, aber ganz so wild waren die natürlich auch nicht mehr, aber im Vergleich zu den possierlichen Kleintieren immer noch wild genug, um uninteressant zu sein. Tiere, die man nur von weitem sehen kann, wozu man sich dann auch noch still verhalten muß - das war erheblich unattraktiver als die gefräßigen und für eine handvoll Automatenfutter jederzeit erkenntlichen Zuneigungs- und Unterwürfigkeitsprofis im kleinen Gehege.

Nach Poing in den Wildpark mußte man allerdings eine ganz schöne Strecke mit der S-Bahn fahren, durch die ganze Stadt durch und noch ein gutes Stück Richtung Erding (Immerhin war es die selbe Linie an der auch unsere Schule lag und so mußte man wenigstens nicht umsteigen). Die nähere und daher häufiger gewählte Alternative war der Tierpark Hellabrunn, mitten im Münchener Stadtteil Thalkirchen an der Isar gelegen und in höchstens der halben Zeit zu erreichen. Auch hier gab es einen Streichelzoo, am Rande des eigentlichen Zoos gelegen, gleich bei den Kassen am Eingang und dem Rest sozusagen vorgeschaltet. Das Angebot an Tieren war, glaube ich, etwa das gleiche wie in Poing, aber an Attraktivität der restlichen Anlage nicht ganz so überlegen wie dort. Eingangs ein wenig streicheln und füttern gut und schön, aber nachdem es drinnen dann die wirklich wilden Tiere gab... Die man auch nicht nur zufällig mal im Gelände in der Ferne sehen oder auch nur erahnen konnte, sondern die - wie sollten sie anders? - stets verfügbar und in gewissermaßen gleichbleibender Qualität auf der anderen Seite der Gitterstäbe und der Glasscheiben und der Zäune sich zur Betrachtung verfügbar hielten. Gelegentlich vielleicht sogar zurückschauten, aber vielleicht sah das auch nur so aus, während sie in Wahrheit hinter tausend Stäben eben gar keine Welt mehr sahen, keine Welt und dann sicher auch mich nicht. Und schon als Kind kam mir der oft bemühte, pseudo-philosophische Topos immer falsch vor, daß man gar nicht sagen könne, wer hier wen beobachtet. Denn daß die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt hier ganz zweifelsfrei geklärt waren wurde mir spätestens dann offensichtlich, wenn mich das jeweilige Tier zu langweilen begann, und ich im Gegensatz zu ihm eben weiter flanieren konnte. Die auf der anderen Seite des Gitters konnten das eben nicht, so begriff ich, und haßte dabei die Erwachsenen, die immer wieder mit diesem "Wer beobachtet denn jetzt hier wen?" Quatsch ankamen. Ich konnte mir aussuchen, wann und wie lange ich den Panther anglotzte und wartete, daß der Vorhang der Pupille mal aufgeht (hinter dem wiederum ich keine Welt mehr sah), und ich konnte entscheiden, daß ich als nächstes den Schabrackentapir ansehe, dem irgendjemand meinen Vornamen gegeben hatte. Und schließlich konnte ich auch entscheiden, wann ich genug hatte von all diesen Toten auf Urlaub und lieber eine unangemessene Summe Geldes in eine Tüte mit von altem Fett triefenden Pommes Frites investierte. Oder die Zeit bis zum Ende des Schulausfluges, wenn Frau Feichtmeier uns wieder in die U-Bahn und dann in die S-Bahn bugsierte, endlich nach Hause, beim Ausgang im Streichelzoo verwartete.

Auch hier hatte nur ich die Wahl: DU wirst von mir gestreichelt, du interessierst mich nicht, jetzt will ich noch bleiben, jetzt will ich euch füttern, jetzt hol ich mir ein Eis. Und ihr bleibt hier. Durch Züchtung und Dressur bedingt ließ man sich immer streicheln, mit nie nachlassender Dankbarkeit und Begeisterung. Und wir fühlten uns wie lauter kleine Franz von Assisis. Und die Lehrerin konnte zufrieden sein, wie spielerisch wir so den Umgang mit dem Anderen und mit der Natur erlernten. Nun ja.

Der Streichelzoo ist jedenfalls stets ein eher dezentrales Phänomen gewesen. Im Wildpark, im Zoo, und - auch das - in den traurigen kleinen Wanderzirkussen, die gelegentlich durch die bayerische Provinz zogen, mit italienischen Phantasienamen, einem kleinen, heruntergekommenen Zelt und Musik vom Band. Und am Rande stets ein kleines Gehege mit netten, kleinen Tieren, die für eine Mark extra auch gestreichelt werden wollten.

Hier in Weimar jedoch ist der Streichelzoo in die Mitte gerückt; ins geographische Herz der Bauhaus-Universität, zwischen Hauptgebäude und Van-de-Velde Bau, und auch zeitlich ins Zentrum, zur Jahresausstellung und zum zehnjährigen Jubiläum der Fakultät für Gestaltung.

Soviel zum Offensichtlichen. Was aber ist das Signifikat dieses unübersehbaren Signifikanten? Gewiß, die naheliegendste Deutung wäre, hier eine Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von Kultur und Natur zu sehen. Lebende Tiere, mithin eine unserer Grundvorstellungen von "Natur", werden aus der Peripherie, in die wir Sie gemeinhin verbannt haben, in ein Zentrum der Kultur transloziert, in einen urbanen Kontext, zu allem Überfluß in eine Kulturhauptstadt, die wir durch die Assoziation mit der Weimarer Klassik in besonders hohem Maße als ästhetisches, künstlerisch überhöhtes und zivilisatorisches Terrain denken müssen. So weit, so banal: denn bei näherer Betrachtung vermag diese Lesart doch nicht allzuweit standzuhalten. Die versammelten Tiere entbehren ja nun doch sehr weitgehend jeglicher Natürlichkeit, geschweige denn Wildheit. Hängebauschweine, Zwergponies, Meerschweinchen und Kaninchen stellen ja im Gegenteil ein regelrecht obszönes Übermaß an Domestiziertheit dar, sind lediglich noch Schwundstufen, um nicht zu sagen Karikaturen von ehemals wilden Tieren; allenfalls ferne Reflexe von Wildschwein, Wildpferd, Wildhase... Eine Kombination, die allenfalls außerhalb der Stadt, in der "Wildnis" der Wälder oder Auen eine adäquate Auseinandersetzung mit der Natur-Kultur-Thematik wäre. Wenn man Vergleiche in der Kunstgeschichte suchte, vielleicht eine späte ironische Antithese zu Beuys' berühmter Performance "I like America and America likes me", wo der Künstler eine zeitlang mit einem Coyoten zusammen einen Galerieraum bewohnte (Galerie René Block, New York, 1974).

Hier scheint es also um etwas ganz anderes zu gehen. Die Tiere sind das Gegenteil des Coyoten bei Beuys - keine Allegorie auf Wildheit, Unzähmbarkeit und Frontier. Sondern im Gegenteil Sinnbilder des Niedlichen, Harmlosen, gezähmten, Konfliktfreien. Nicht das Gedachte Pendant außerhalb der Stadt ist das Ziel der Aussage, sondern das real anwesende Habitat, direkt gegenüber: der eigene Lebensraum der Künstler, der akademische Betrieb der Bauhaus-Universität hier in Weimar. Die Arbeit ist also tatsächlich als site-specific konzipiert. Und das befremdliche Setting hier gegenüber der Universität stellt der Intention nach einen bestimmten Aspekt der Struktur und spezifischen Kultur dieser Universität dar, selbstverständlich stark ironisch überhöht. Die Künstler artikulieren mit dieser surrealistisch anmutenden Einrichtung eines Streichelzoos auf dem Universitätsgelände ihr grundsätzliches Unbehagen an den Kommunikationsgewohnheiten dieser Universität. Das Streicheln und gestreichelt werden stellt eine Metapher dar für eine überindividuell ausgeprägte Strategie konsequenter Konfliktvermeidung, für ein tendenziell konsenssüchtiges Kommunikations- und Diskussionsklima, welches für die beiden Künstler ein Charakteristikum dieser Universität darstellt. Die für eine fruchtbare intellektuelle Entwicklung notwendige bzw. sogar konstitutive Möglichkeit des Dissenses und der Kritik, die jedweden Fortschritt durch konstruktive Aushandlungsprozesse erst ermöglicht, scheint in Weimar kaum gegeben.

In genau diesen Konventionen des Umgangs zwischen Studenten wie auch zwischen Professoren und Studenten sehen die beiden Künstler wiederum den Grund für eine gewisse Stagnation im künstlerischen Arbeiten an der Weimarer Gestaltungsfakultät. Der Wunsch, allen zu gefallen und von allen gleichermaßen akzeptiert zu werden, erzeugt eine doppelte Hemmung: im vorauseilenden Gehorsam wird die individuelle künstlerische Produktion an die (unterstellten) Erwartungen des Kollektivs angepaßt; zum anderen resultiert eine Art von permanenter Beißhemmung, die niemand anderem durch Kritik zu nahe treten möchte - aus Furcht vor Kritik am eigenen. An vielen Arbeiten, die aus diesem kommunikativen Setting heraus entstehen, kritisieren Maage und Mayr einen systemisch bedingten Mangel an Konzept, Schlüssigkeit, Entschlossenheit und Humor - also einen Mangel an all jenen Qualitäten, durch die erst eine Arbeit provozieren, Widerspruch hervorrufen und konstruktive Diskussionen auslösen könnte. Verstärkt wird diese Tendenz, so ihre weitere Diagnose, dadurch, daß auch das lehrende Personal eher sparsam mit substantiierter Kritik umgeht und sich trotz eines permanenten Unbehagens an der Qualität vieler Arbeiten auf den herrschenden Kommunikationscode einläßt.

Über die tieferen Gründe für die Entwicklung dieses Kommunikationscodes läßt sich nun spekulieren. Eine mögliche Determinante für solche extremen Höflichkeits- und Konfliktvermeidungskulturen ist ja bekanntermaßen eine sehr hohe Populationsdichte - man denke an das Beispiel Japans. Wobei anzumerken ist, daß ab einer gewissen Dichte es auch zu dem kommen kann, was man in der Verhaltensforschung gelegentlich als "Overcrowded cage" Syndrom bezeichnet, also ein Umschlag in extrem aggressive Interaktionsformen. Wie auch immer. Angesichts dieser Überlegungen ist natürlich festzuhalten, daß Weimar in der Tat - und verzeihen Sie mir als Externem diese Bemerkung - eine eher kleine Stadt (ca. 62.000 Einwohner) mit einer kleinen Universität ist. Keine anonyme Großstadt mit Massenuniversität wie etwa München oder Berlin. "In Weimar leben ist wie das Leben in einer großen WG" heißt es. Für die Universität hier mag das mindestens genauso zutreffen. Und dennoch handelt es sich um die einzige Kunstausbildungsstätte des gesamten Bundeslandes Thüringen. Man kann hier also berechtigt von einer sehr hohen Dichte sprechen und hierin die - oder zumindest eine - Ursache für die diagnostizierte Konfliktvermeidungskultur vermuten.

Dieses spezifische Weimarer Defizit wird also in Form des hier aufgebauten Streichelzoos quasi allegorisch sichtbar gemacht und zur Diskussion gestellt. Das Streicheln steht in diesem Kontext für jene Form gegenseitiger Wertschätzung und Kritikimmunität, die unabhängig von Person und Arbeit dem gegenseitigen Umgang und der Kommunikation gewissermaßen apriorisch vorgeschaltet ist und die alle Tätigkeit in das matte Licht institutionalisierter Neutralität und Indifferenz taucht. Das Apriorische wird hierbei sinnfällig ausgedrückt durch die Auswahl der versammelten Tiere, die durchgehend eben eher Paradigmen von "Tierchen" sind; und sich von der Oberkategorie "Tier" auf ähnliche Weise unterscheiden wie eben der Diminuitiv "Streicheln" vom "Streich". Niedlichkeit und Harmlosigkeit sind diesen bedauernswerten, ausschließlich als freundlich konzipierten Wesen schon durch einen langen Züchtungsprozeß unauslöschlich ins Genom eingeschrieben. Und schon die Idee eines Streichelzoos läßt sich in der gleichen Weise interpretieren: ich muß in diesem Zusammenhang vielleicht noch einmal darauf hinweisen, daß das "Streicheln" ja gewöhnlich lediglich Ausdruck einer auf anderen Faktoren beruhenden Zuneigung darstellt; diejenigen jedoch, die wir im Streichelzoo streicheln, sind hingegen vollkommen beliebige, identitäslose Projektionsflächen für mehr oder weniger frei flottierende Zärtlichkeitspotenziale und Bedürfnisse nach haptischer Sensation. Hinter dem obszönen Übermaß von entkontextualisierten Zuneigungsgesten verschwindet noch der letzte Rest an Individualität und individueller Würde.

Der institutionelle Rahmen, in dem die einen willfährig auf Gesten der Zuneigung von anderen warten und nur zu warten haben, verunmöglicht von vorneherein eine wie auch immer geartete wirkliche Auseinandersetzung mit dem Gegenüber in seiner Komplexität und Einzigartigkeit. Aus handelnden Subjekten werden fungible und passive Objekte gemacht, die gerade in jenen Akten, die oberflächlich wie Zuneigungsbezeugungen aussehen, jedesmal aufs neue mißhandelt und ihrer Würde beraubt werden. Die These über die Möglichkeiten des Zusammenlebens von Mensch und Tier, die Rosemarie Trockel und Karsten Höller in ihrem "Haus für Schweine und Menschen" auf der Documenta X aufgestellt haben, erlebt hier eine deprimierende Antithese.

Und ähnlich deprimierend erscheinen die Aussichten einer fruchtbaren künstlerischen Auseinandersetzung und damit auch Weiterentwicklung an der Weimarer Bauhaus-Universität, angesichts der hier überspitzt sichtbar gemachten Unfähigkeit, den anderen anders als niedlich, freundlich, indifferent wahrzunehmen, angesichts einer Kommunikationskultur, deren Regeln unabhängig von und zeitlich stets vor den aktuellen Kommunikationsanlässen gelten.

Aber dann: glücklicherweise doch nicht ganz. Denn indem die Arbeit von Maage und Mayr diese Entwicklungshindernisse - natürlich in stark abstrahierter Form - aufzeigt und somit durchaus eine kontroverse und kritische Auseinandersetzung sucht, entwickelt sich nämlich auch eine Art performatorischen Widerspruchs zur eigenen These. Und läßt hoffen, daß so letztendlich vielleicht doch wieder Bewegung ins allzustille Spiel kommen könnte.